Ukemi: Die Kunst des sicheren Fallens und Rollens in Aikido, Judo und Jiu-Jutsu

Ukemi (受け身) ist ein zentraler Bestandteil vieler japanischer Kampfkünste und bedeutet wörtlich „den Körper empfangen“. Es beschreibt die Fähigkeit, sicher zu fallen, zu rollen und Würfe zu empfangen, ohne sich zu verletzen.

In der Japanischen Kampfkunst Aikido und den Kampfsportarten Judo und Ju-Jutsu legt man großen Wert auf das Vermeiden von Verletzungen. Ukemi umfasst hierbei verschiedene Roll- und Falltechniken, die es dem Übenden ermöglichen, die Energie eines Angriffs sicher abzuleiten. Ukemi ist so essentiell, dass es eine der ersten Lektionen im Dojo ist und einen festen Platz in jedem Training einnimmt.

Ukemi ermöglicht den Übenden, sicher zu fallen, Verletzungen zu vermeiden und die Techniken ihrer Kunst oder Sportart voll auszuschöpfen. Durch regelmäßiges Üben von Ukemi entwickeln die Übenden nicht nur körperliche Fähigkeiten, sondern auch mentale Stärke und Resilienz.

Folgende Techniken werden unterschieden.

  • Mae Ukemi (前受け身): Vorwärtsrolle, bei der der Übende vorwärts über die Schulter rollt, um den Aufprall zu verteilen
  • Zenpo Kaiten Ukemi (前方回転受け身): Zenpo Kaiten Ukemi ist eine fortgeschrittenere Vorwärtsdrehrolle, bei der der Praktizierende eine vollständige Drehung (Rotation) macht. Man rollt über die Schulter und dreht sich dabei um die eigene Achse.
  • Ushiro Ukemi (後ろ受け身): Rückwärtsrolle, bei der der Übende rückwärts fällt und die Energie über den Rücken ableitet
  • Yoko Ukemi (横受け身): Seitwärtsfall, bei dem der Übende seitlich auf den Boden fällt
  • Tobi Ukemi: (飛びけ身): Fliegen oder Springen: Eine sanfte Falltechnik, bei dem das harte Aufkommen von Händen und Füssen beim Fallen vermieden wird.
  • Haneochi (羽落ち), auch bekannt als „Featherfall“, wird verwendet, um sanft und sicher zu landen, ähnlich wie eine Feder, die zu Boden schwebt. Diese Technik wird oft in fortgeschrittenen Klassen gelehrt und erfordert eine gute Körperkontrolle und Koordination da man sich dazu in der Vorwärtsbewegung nach hinten fallen lassen muss.
  • Breakfall: Alle Ukemi-Varianten, bei denen der Fall durch den Einsatz von möglichst viel Körperfläche abgemildert werden soll. Weiterhin gibt es alle möglichen Varianten aus den oben genannten Grundtechniken und letztlich ist jede Variante, mit der man sicher und den Körper schonend einen Wurf oder Fall abfängt, eine gute Lösung.

Techniken, Philosophien und Ziele:

  1. Aikido:
    • Techniken: Aikido konzentriert sich auf das Um- bzw. Ableiten der Energie eines Angreifers. Es beinhaltet viele Wurf- und Hebeltechniken. Alle sollen möglichst so eingesetzt werden, dass der Gegner nicht verletzt wird.
    • Philosophie: Aikido legt großen Wert auf Harmonie und Selbstverteidigung ohne Verletzung des Angreifers. Es wird oft als eine friedliche Kampfkunst betrachtet.
    • Ziel: Das Ziel ist es, Konflikte zu deeskalieren und den Geist des Angreifers zu ändern, so dass kein Schaden verursacht wird. Es ist eine betont defensive Kampfkunst.
  2. Judo:
    • Techniken: Judo ist bekannt für seine Wurftechniken und den Bodenkampf (Ne-Waza). Es gibt auch Haltegriffe, Würgegriffe und Hebeltechniken.
    • Philosophie: Judo bedeutet „sanfter Weg“ und betont den Einsatz von Technik und Hebelwirkung über rohe Kraft. Es hat auch einen starken sportlichen Aspekt und ist eine olympische Disziplin.
    • Ziel: Das Ziel im Judo ist es, den Gegner zu werfen oder am Boden zu kontrollieren, um Punkte zu erzielen oder ihn zur Aufgabe zu zwingen.
  3. Ju-Jutsu:
    • Techniken: Ju-Jutsu ist eine vielseitige Kampfkunst, Kampfsportart und Selbstverteidigung, die Techniken aus verschiedenen Disziplinen wie Judo, Aikido und Karate kombiniert. Es umfasst Würfe, Hebel, Schläge und Tritte.
    • Philosophie: Ju-Jutsu legt Wert auf Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, um sich gegen verschiedene Arten von Angriffen zu verteidigen.
    • Ziel: Das Ziel ist eine effektive Selbstverteidigung in realen Situationen, wobei Techniken je nach Bedarf angepasst werden können.

Im Vergleich ist Ju-Jutsu die aggressivste der drei Disziplinen. Schläge und Tritte, die den Gegner stark verletzen oder ausschalten können gehören grundsätzlich zum Trainingsrepertoire. Auch schon am Boden liegende oder in Hebeltechniken festgesetzte Gegner werden oft noch mit einem „finalen“ Schlag (im Training angedeutet) zur Strecke gebracht.

Im Judo hingegen ist die Kontrolle des Gegners oberstes Ziel. Halte- und Würgegriffe werden in der Regel so ausgeführt, dass die Aufgabe des Gegners (durch Abklatschen) erzwungen wird. Dabei ist es wichtig, den Gegner stetig eng am Körper zu führen und festzuhalten.

Das Prinzip des Aikido unterscheidet sich hier grundlegend. Im Aikido ist zum einen kein Wettkampfgedanke vorhanden, zum anderen ist es nicht das Ziel den Gegner zu besiegen oder gar zu vernichten, sondern ihn dazu zu bringen, von seinem Handeln abzulassen. Es geht rein um die Deeskalation einer bedrohlichen Situation, im Idealfall ohne dass es überhaupt zu einem Kampf kommt.

Optimalerweise lässt ein Aggressor vor dem eigentlichen Angriff von seinem Vorhaben ab und geht friedlich seines Weges genau wie das vermeintliche Opfer. Dieses Idealbild ist in der Wirklichkeit wahrscheinlich oft nur ein Wunsch, es ist aber die grundlegende Philosophie vieler Kampfkünste und der Unterschied zu einer Wettkampfsportart.

Das bringt uns zu einer grundsätzlichen Unterscheidung von Judo und Ju-Jutsu zu Aikido: Während im Kampfsport der Gegner geworfen wird, z.B. über die Schulter oder Hüfte, wird er im Aikido auf eine andere Bahn (im übertragenen Sinn ein Wandel des Geistes) geführt. Wenn möglich, ohne ihn zu verletzen. Die Kontrolle eines Gegners bis zum bitteren Ende, z.B. durch einen Hebel am Boden, der ihn zur Aufgabe zwingt, bewirkt das Gegenteil. Es führt zum Sieg des einen und Demütigung des anderen.

Nichtsdestotrotz werden auch im Aikido Techniken zur Fixierung eines Gegners geübt – aber selbst diese in relativ sicheren Varianten für Uke.

Ukemi (受け身)

Ukemi umfasst verschiedene Fall- und Rolltechniken, die dazu dienen, sicher zu landen und Verletzungen zu vermeiden. Derjenige, der die Techniken ausführt, wird im Japanischen „Nage“ (投げ), der Werfende, genannt.

Der Übungspartner, der die Technik empfängt, heißt „Uke“ (受け), der Empfangende. „Mi“ (身) wiederum ist der Körper. Uke muss wissen, wie er oder sie die Technik hinnehmen kann, ohne körperlichen Schaden zu nehmen. Das bezeichnet man als „Ukemi“ – mit dem Körper empfangen.

Eine genauere Betrachtung von Ukemi liegt in der Unterscheidung bei Rollen und Fallen.

Rollen und Fallen

A. Westbrook und O. Ratti vergleichen das Rollen in „Aikido und die dynamische Sphäre“ mit der „Dynamischen Sphäre“ selbst. Die Kugelform wurde von den alten Meistern der Kampfkunst oft als die perfekte Gestalt angesehen.

„Unser Körper muss, wenn erforderlich, zu einer solchen Kugelform werden, .. und somit zu einem Bewegungsmechanismus machen, den wir sowohl aus strategischen Gründen als auch zur eignen Sicherheit verwenden“.

Der große Unterschied zum Fallen ist hierbei, dass beim Fallen lediglich versucht wird, sicher auf dem Boden zu landen, während man beim Rollen möglichst schnell wieder eine aufrechte und stabile Haltung einnehmen kann.

Im Englischen gibt es bei den Begrifflichkeiten eine bessere Unterscheidung als im Deutschen. Während man im Deutschsprachigen Raum oft weiches Fallen, mit welchem in der Regel Rollen gemeint ist, vom harten Fallen unterscheidet, gibt es im Englischen noch den Begriff „Breakfall“. Dieser wird weiterhin in Soft- (Tobi Ukemi) und Hard-Breakfalls (Ukemi) unterschieden. Das Wort Breakfall kommt sprechend vom „Brechen“ oder Stoppen des Falls. Konkret heißt das, dass wenn man z.B. nach vorne fällt, man sich mit beiden Unterarmen und möglichst viel Fläche abfängt, anstatt nur auf die Handflächen zu fallen. In Kampfsportarten, die Würfe durch Festhalten kontrollieren und gleichzeitig mit Wucht versehen, ist dies die einzige Möglichkeit für Uke den Fall abzumildern. Ein weiches Abrollen ist durch die Fixierung (z.B. Festhalten des Armes) von Uke durch Nage nicht möglich.

Der „Harte“ Fall ist demnach als letzte Möglichkeit zu sehen um Schaden am eigenen Körper abzumildern. Es ist zudem sehr unwahrscheinlich, dass außerhalb des Dojo nicht trotzdem Verletzungen auftreten. Aber auch im Dojo können Breakfalls auf Dauer Schaden hinterlassen, besonders wenn sie aus großer Höhe entstehen. Während im Judo und Ju-Jutsu die Würfe eng am Körper geführt werden, oftmals unter Einsatz der Masse des Körpers des Werfenden, gibt es im Aikido wenig Hebel die solch enger Körperführung oder gar Umklammerungen bedürfen.

Werden Aikido-Techniken (z.B. Shihonage) mit einem Breakfall ausgeführt, können durchaus kritische Situationen entstehen. Es Bedarf exakter Führung sowohl von Nage als auch gute Körperbeherrschung von Uke. Eine Variante, um nicht ganz so hart auf dem Boden aufzuprallen, stellt hierbei Tobi Ukemi dar. Hier wird der „harte“ Breakfall zu einem weichen, indem letztlich soweit wie möglich gerollt wird und am Ende die Position eines harten Breakfalls eingenommen wird. Hiermit lassen sich spektakuläre Vorführungen realisieren, die aber trotzdem nicht ganz ungefährlich sind, da meist über den frei über dem Boden schwebenden Kopf gesprungen wird. In Extremvarianten wird ein Überschlag praktiziert. Die Frage ist, in wie weit dies dem eigentlichen Geist des Aikido entspricht. Zum einen sind diese Ukemi keine realistische Anwendung in echten Konflikten, zum anderen widerspricht auch der entstehende Show-Aspekt (=„Sportgedanke“) dem Geist des Aikido.

Kenshiro Yoshigasaki schreibt in seinem Buch „Aikido in Real Life“: „One of the particularities of Aikido practice is Ukemi. In fighting sports Ukemi means to prevent damage when you receive the technique from the other, but in Aikido the Ukemi is different, because Aikido is not a fighting practice.

In the Dojo, Uke falls in a way that allows Nage to keep practicing many techniques. However, you should also practice how to protect your body when falling in real life. So, the falling form is different. In real life, you should falls sideways.“

Ein weiterer Aspekt im Aikido ist, dass die Kontrolle über Uke nebensächlich ist. Um Verletzungen zu vermeiden sollte Uke so sanft wie möglich geführt werden und die Möglichkeit erhalten, sich nach Ausführung der Technik sicher fort zu bewegen. Ansonsten wäre es ein Kampf.

Giuseppe Ruglioni beschreibt Ukemi in seinem Buch „Aikido – the Art of Perception in a Practice of Peace“: „Not to fall – the art of Ukemi“:

„Contrary to the other martial disciplines, as for instance Judo which is based on the unbalancing of the partner, in Aikido, the techniques develop in a way that Uke rolls and then promptly gets up and attack again.“

D.h. jede Unterbrechung im Fluss des Technikempfangs ist hinderlich. Daher ist die optimale Ukemi Variante die weiche, fließende. Breakfalls passen hier nicht ins Bild sondern sollten lediglich die Variante sein, wenn einem gar nichts anderes mehr übrig bleibt.

Ukemi Probleme im modernen Aikido

Vergleicht man ältere Aikido Videos mit aktuellen fällt auf, dass Ukemi ein Stilmittel geworden zu sein scheint. Spektakuläre und artistische Breakfalls mögen aufsehenerregend und beeindruckend sein, der Sinn dahinter ist jedoch reine Effekthascherei. Auch auf Videos auf denen der Gründer Ueshiba seine Uke warf sieht man Breakfalls, sogar mehr harte als weiche. Jedoch sind sie so gut wie immer der Situation geschuldet und nicht um die Technik spektakulär erscheinen zu lassen. Generell kann man sagen, dass Ukemi, je weicher es ausgeführt wird, auch umso besser für die Gesundheit ist. Wenn möglich sollte man so viel Bodenkontakt wie möglich halten und Ukemi so leise wie möglich ausführen, damit man der Gesundheit nicht schadet.

Heutzutage sehen wir zwei Extreme im Aikido. Die, die überhaupt nicht mehr Ukemi machen möchten, und die, die aus Darstellungsgründen Ukemi falsch anwenden. Das ist ein Problem, denn man könnte sagen, Ukemi ist die Essenz des Aikido und hat viele Vorteile für das reale Leben.

Generelle Benefits von Ukemi

Ukemi ist im Alltag von großem Nutzen. Studien zufolge sterben mehr Menschen durch Bewegungs-Unfälle, beim Hinfallen im Haushalt, im Winter auf glatten Straßen, beim Fallen von der Leiter im Garten, usw., als durch Zweikämpfe. Gesundes Abrollen wird jedoch selten gelehrt. Aikido ist hier eine große Ausnahme.

In Deutschland sterben jährlich deutlich mehr Menschen durch Stolpern oder Fallen als durch Zweikämpfe.

Laut dem Statistischen Bundesamt starben im Jahr 2023 insgesamt 33.772 Menschen durch verschiedene Unfallkategorien, wobei 16.388 dieser Todesfälle auf häusliche Unfälle, einschließlich Stolpern und Fallen, zurückzuführen sind.

Im Vergleich dazu sind Todesfälle durch Zweikämpfe oder gewalttätige Auseinandersetzungen deutlich seltener. Die genaue Zahl variiert, aber sie ist wesentlich niedriger als die durch Unfälle verursachten Todesfälle. Laut dem Statistischen Bundesamt gab es im Jahr 2023 insgesamt 1.004 Todesfälle durch vorsätzliche Gewalt, einschließlich Tötungsdelikten.

Wie viele davon deswegen gestorben sind, weil sie nicht korrekt Ukemi anwenden konnten, war für den Autor beim Statistischen Bundesamt nicht heraus zu finden.