Aikido und die schlagenden Kampfkünste

Sollte man viele verschiedene Kampfkünste erlernen?

ieser Artikel ist inspiriert von der Übersetzung „Aikido und die schlagenden Kampfkünste“ von David Russell auf aikidojournal.com und dem Interview mit Karl Geis (https://www.karlgeis.com/interview-with-mr-geis)

Viele Aikidoka erleben früher oder später Sinnkrisen. Diese sind zum einen durch die immer wiederkehrenden Diskussionen darüber ausgelöst ob Aikido effektiv ist und in einem „echten“ Kampf funktioniert. Zum anderen fallen auch erfahrene Aikidoka immer wieder darauf herein Aikido mit anderen Kampfkünsten zu vergleichen. Beim reinen Vergleich bleibt es natürlich oft nicht. Und wenn sich nun der Aikidoka mit den anderen Stilen mißt, stellt sich oft große Enttäuschung ein. Man stellt fest, dass man im Boxkampf unterlegen ist. Man stellt fest, dass man im Ringen unterlegen ist und man stellt ebenso fest, dass man mit den Kicks der Kickboxer nicht mithalten kann. Diese Vergleiche führen jedoch zu nichts und ihr Ursprung basiert auf komplett falschen Vorstellungen.

Man sollte sich zunächst vor Augen führen, welche grundsätzlichen Unterschiede es zwischen Kampfsport und Kampfkunst gibt. Im Kampfsport gibt es festgelegte Regeln und Wettberwerb. So darf man im Boxen z.B. grundsätzlich nicht treten. Man darf auch nicht den Ellbogen in die Nase des Gegners rammen. Es gibt Regeln, die dazu dienen, dass der Gegner nicht verletzt wird. Man trägt vielleicht Handschuhe und Kopfschutz. Je nach Sport unterscheiden sich die anzuwendenden Tachniken. Im Taekwondo und Karate soll explizit viel mit den Füßen gearbeitet werden, gut plazierte Tritte werden mit Punkten honoriert. Im Judo wiederum werden Würfe und Hebel belohnt.

Die Kampfkünste hingegen dienen hauptsächlich der Selbstverteidigung. Sie besitzen allesamt sehr effektive Methoden um Angreifer abzuwehren und die Techniken sind mitunter sehr gefährlich und können auch tödlich sein. Je nach dahinter stehender Philosophie sind sie daher auch mehr oder weniger agressiv.

Speziell im Fokus auf die Kampfkünste wird oft diskutiert, welches denn nun die effektivste ist. Nun, es kommt darauf an. Wir sollten zunächst noch einmal unterscheiden, welche grundsätzlich unterschiedlichen Technik-Varianten es gibt, um einen Angriff abzuwehren.

Diese kann man in drei unterschiedliche Kategorien aufteilen, und alle drei sind effektiv:

  1. Die „schlagenden“ Künste, wie Karate, Boxen, Taekwondo usw.
    Hier wird größtenteil Kraft gegen Kraft eingesetzt. Es wird geblockt und geschlagen. Je intensiver und stärker ein Tritt oder Schlag eingesetzt wird, umso besser.
  2. Die „ringenden“ Künste, wie Judo und Wrestling. Hier werden insbesondere Haltetechniken propagiert. Diese müssen technisch zum einen gut sitzen, zum anderen ist auch eine gewisse körperliche Stärke vonnöten damit man z.B. eine Umklammerung oder eine Beinscheere mit dem nötigen Druck halten kann.
  3. Schließlich gibt es noch die Kunst des Ausweichens, wie im Aikido, aber auch in einigen Kung-Fu oder Jiujitsu-Stilen. Sicherlich liegt Aikido hierbei in der Ausprägung mit an der Spitze.

Jetzt das wichtigste, wenn man diese drei Kategorien vergleicht:

Sie schließen sich gegenseitig aus!

Zum Beispiel ist es schwer am Boden zu kämpfen und gleichzeitig zu schlagen. Es ist schwer der Kraft des Gegners auszuweichen, wenn man am Boden liegt und es ist schwer zu schlagen, wenn man der Kraft des Gegners dabei ausweicht.

Es versteht sich von selbst, dass diese Kategorien in unterschiedlichen Ausprägungen vorkommen. Weiterhin gibt es unzählige Varianten des „Mehrkampfs“ und Schulen, die versuchen das „Beste aus allen Stilen“ zu vereinen.

Dabei sollte man sich aber ein paar grundlegender Dinge bewußt sein:

Wenn wir die Künste gemischt trainieren passieren seltsame Dinge in unserem Körper und Geist.

Wenn das Unterbewusstsein darauf konditioniert wurde mit der linken Hand zu blocken und mit der rechten Hand zu schlagen wenn man angegriffen wird so wird die Reaktion fast verzögerungsfrei sein. Wenn wir uns aber ebenfalls damit beschäftigt haben, dem Schlag auszuweichen, so ist unser Unterbewusstsein verwirrt. Es gibt diese Entscheidung zurück an die Ebene des Bewußtseins. Der Unterschied besteht nun darin, dass das Unterbewusstsein eine Entscheidung in einem fünfundzwanzigstel einer Sekunde macht, wohingegen der bewusste Geist dafür eine dreiviertel Sekunde benötigt. Das Unterbewusstsein ist ungefähr 18 mal schneller.

Für Karl Geis ist derjenige ein (wahrhaftiger) Kampfkünstler, der nur EINE der Kategorien studiert. Denn nur der, der sich ausschließlich auf eine Reaktionsart konzentriert und diese ausschließlich verinnerlicht, hat die Fähigkeit auf jeden nur erdenklichen Angriff zu reagieren.

Um nun auf die Überlegungen vom Anfang zurück zu kommen: Ein Kampfkünstler, der seine Kunst wirklich verinnerlicht hat, wird nicht den Fehler begehen, in Techniken der anderen Kampfkünste zu verfallen. Konkret gesprochen: Wer keine Block-Schlag- Angriffe geübt hat, wird sie auch nicht machen. Wer keine Schulterwürfe wie im Judo geübt hat, wird sie auch nicht anwenden. Er wird sich darauf konzentrieren nur die in seiner Kampfkunst erlernten Techniken einzusetzen.

Es wäre für einen Aikidoka ebenso fatal sich mit einem Boxer aufs Boxen einzulassen wie auf das Ringen mit einem Ringer. Stattdessen muss er sich auf seine eigenen Stärken konzentrieren.

In Aikidokreisen gibt es z.B. Diskussionen darüber, wie man mit der Angriffs-Geschwindigkeit eines Karatekas umgehen sollte. Wie trainiert man sein Schüler damit sie mit diesen Angriffen umgehen können?

Für einen Aikidoka ist die beste Art mit solch einem Angriff umzugehen, nicht dort zu sein, wo der Angreifer es von demjenigen, mit dem er für gewöhnlich trainiert, erwarten würde. Der Angreifer wird dadurch gezwungen mit einer Sitation umzugehen, in die er nur selten gerät und muss seine Strategie entsprechend ändern. Auf jeden Fall bleibt derjenige, der Bewegung als Teil seiner Verteidigung verwendet hat, unverletzt und hat normalerweise viel Zeit, sich auf eine neue Bewegung vorzubereiten.

Es ist allgemein bekannt, dass jeder, der einen Karateka, einen Boxer, einen Taekwondoka oder einen Ausübenden einer anderen schlagenden Kampfkunst angreift ein großes Risiko auf sich nimmt und durchaus geschlagen werden kann. Während wir die Schwächen und die Stärken einer jeden schlagenden Kampfkunst betrachten, finden wir jedoch viele Lücken in deren Schutzmechanismen. Wenn wir unsere Kunst also innerhalb dieser Lücken einsetzen, werden wir feststellen, dass wir die Situation mit überraschender Leichtigkeit beherrschen können.

Für einen Aikidoka gelten daher folgende wichtige Regeln:

  1. Lass dich nicht dazu bringen selbst anzugreifen! Die Regeln der schlagenden Künste erfordern es, dass der Gegner kämpfen muss. Jemand, der sich strategisch zurückzieht, ist schwer oder gar nicht zu treffen. Im Aikido heißt dieser Abstand Maai. Verinnerliche die Distanz, bei der du dich bewegen musst, um einem Schlag zu entgehen! Der Schlag oder Tritt einer schlagenden Kampfkunst ist ein sehr empfindliches Gerät, das normalerweise nur eine sehr kurze effektive Distanz – mit durschlagender Wirkung – hat. Dies ist natürlich die Besonderheit der schlagenden Kampfkünste.
  2. Fasse (oder führe) die gegnerischen Hände! In schlagenden Künsten ist es nicht erlaubt die Hände des Gegners zu fassen oder irgendeinen Teil des Körpers festzuhalten. Grundsätzlich ringen Schlagkünstler nicht im Training.
  3. Bringe auch den Gegner dazu, sich zu bewegen! Wenn man einem Schlagkünstler dabei zuschaut, wie er durch eine Kata huscht, kann diese Geschwindigkeit beeindrucken. Wenn man jedoch einem Wettkampf zusieht, kann man nur schlecht herausfinden, aus welchem schlagenden Kampfstil der Kämpfer kommt. Das Ganze sieht dann wie normales Kickboxen aus. Warum? Weil alle schlagenden Künste, die im Ring effektiv sind anhand der selben zugrundeliegenden Prinzipien und Regeln funktionieren müssen. Blitzschnelle Schläge und Tritte sind aus dem Stand gut machbar, aber die Schlaggeschwindigkeit sinkt drastisch, sobald sich der Kämpfer bewegen muss, um ein sich bewegendes Ziel zu treffen.
  4. Ringe niemals mit einem Ringer! Es gibt eine wirklich lange Liste von Schlagkünstlern, die nicht mit einem Ringer zusammenkommen möchten.
  5. Stoße mit dem Handballen ins Gesicht! Wir wissen alle, dass man Dinge normalerweise nicht mit den Handknöcheln stößt. Schlagkünstler jedoch dürfen nicht mit dem Handballen schlagen. Das kommt daher, weil Boxer aufhören würden mit der Faust zu boxen, wenn sie es mit dem Handballen tun dürften. Der Mensch erzeugt einfach mehr Kraft, wenn er mit dem Handballen schlägt – und zwar in jedem Abstand – als wenn er mit der geschlossenen Faust und den Knöcheln schlüge. Ansonsten würden Kugelstoßer lernen, wie man die Kugel mit den Handknöcheln schleudert. Halte Abstand und verwirre mit angetäuschten Schlägen. Diese Regel heißt verallgemeinert: Nutze Atemi und nutze Dein Ki!
  6. Nutze Tritte und Füße um den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ja, auch Tritte sind erlaubt. Diese Techniken werden jedoch nicht Kraft gegen Kraft eingesetzt. Sie werden in der Hinterhand behalten und hervorgebracht, z.B. wenn ein tretender Angreifer sich zu weit vorgewagt hat und daher vorübergehend aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Meist steht er dann auf nur einem Bein. Diese Art des Tretens ist eine weiche Art des Tretens oder Schlagens, die sich mit den elementaren Prinzipien des Aikido gut verträgt. Die Betonung liegt auf Genauigkeit und Timing im Gegensatz zu Kraft und wird bloß gegen vorübergehende, tiefgreifende technische Schwächen eingesetzt. Diese sanften Schläge sind meistens dann besonders wirksam, wenn man sie gegen irgendeinen Teil des Fußknöchels, des Knies, des Schienbeins oder des Oberschenkels einsetzt. Das harte Berühren eines dieser Gebiete auf dem Körper des Angreifers kann zu schweren und lang andauernden Beschwerden führen.
  7. Lerne immer, anzugreifen, während du dich bewegst! Der Einsatz von Tritten gegen einen Verteidiger, der den ersten Angriff nicht initiiert, ist schwierig. Der Treter kann nicht gleichzeitig treten und laufen und muss daher jedesmal innehalten, wenn er tritt. Ein sich ständig bewegendes Ziel wird die meisten Versuche zu treten im Sande verlaufen lassen. Wenn du dich bewegst während er schlägt oder tritt, wirst du viele sichere Gelegenheiten finden den Angriffen mit Aikido-Techniken zu begegnen.

Schließlich muss sich jeder selbst fragen, welcher Kampfkunst-Philosophie er auf Dauer anhängen möchte. Gnerell sollte man niemals davon ausgehen, dass man einen Kampf gewinnt. Wenn ein Kampf erstmal angefangen hat, kann immer Unvorhergesehenes und Heimtückisches geschehen.

Fast alle Kämpfe sind nicht beendet, wenn sie beendet scheinen. Normalerweise braucht es eine Autorität, um eine solche Sache abzuschließen. Wenn du also nicht weglaufen kannst, achte auf eine angemessene Distanz zwischen dir und dem Problem.

Oft findet Aikido im kleinen statt oder man hat hinterher das Gefühl, gar keine Technik angewandt zu haben. Im Gerangel ist man gerade noch einmal davon gekommen. Statt Schläge zu kassieren hat man den Arm des Gegners festgehalten und ihn etwas weg gestossen. Man frägt sich dann hinterher: Das war doch keine im Training gelernte Technik. Aber es war natürlich Aikido. Man sollte sich immer vor Augen halten: Nichts funktioniert jemals wie geplant.

Für den Aikido-praktizierenden ist es wichtig zu verstehen, welche Einstellung hinter dieser letzten Aussage steckt. Diese Einstellung, der wir ungefragt folgen, besagt, dass wir uns nicht bewusst mit der Technik beschäftigen, die gerade abläuft. Denn wenn diese Technik sauber vorbereitet wurde, dann wird sich der Erfolg von selbst einstellen. Wir beschäftigen uns vielmehr fortwährend mit den Details, die nötig sind, um die nächste sich anbietende Technik vorzubereiten. Wenn eine Technik mislingt, dann verschwenden wir unsere Zeit nicht damit diese verhunzte Technik zu reparieren. Sondern wir gehen weiter in eine angemessenere Position. Wenn etwas fehlschlägt, machen wir weiter.

Im Aikido ist „ungefährliche effektive Bewegung“ der Name des Spiels. Punkt. Jede einzelne der oben angesprochenen Ideen hängt von Bewegung ab.

Zusammenfassend kann man obige Regeln in einen Satz bringen: Halte Abstand und bleibe in Bewegung. D.h. natürlich nicht, wie ein aufgeschreckter Affe hin- und her zu hüpfen. Ist genügend Abstand vorhanden, bleibt der Aikidoka ruhig und aufmerksam. Wird der Abstand zu gering, muss er wieder vergrößert, oder in eine für den Aikidoka vorteilhafte Position gerückt werden.

Es ist unabdinbar, zu üben, wie man jemanden aus dem Gleichgewicht bringt. Bewegung, Maai, Behalten des Gleichgewichts, Balance, Timing, Rhythmus. Es ist besser dem Gegner zu ermöglichen, dass er sich selbst wirft, in einen Gelenkhebel bringt und sich schliesslich selbst besiegt, als eine Technik durch Schmerz zur Wirkung zu bringen. Behalte die Anwendung von Schmerz jedoch immer in der Hinterhand, um damit eine verhunzte Technik auszugleichen, bei der der Aspekt gestörten Gleichgewichts nicht ausgereicht hat. Versuche, mit Gleichgewicht und dem richtigen Zeitpunkt zu arbeiten. Wenn der Gegner Schmerz spürt, könnte es an einer nicht korrekt ausgeführten Technik liegen.

Es braucht Zeit und Hingabe, diesen Prinzipien und Ideen folgen zu können und eine instinktive Antwort auf einen Angriff zu entwickeln. Normalerweise weniger Zeit als wir erwarten und mehr als wir gerne hätten.

Das Fazit aus diesen Überlegungen: Jede Kampfkunst hat Stärken und Schwächen. Es macht aber keinen Sinn zu versuchen die Stärken aus allen herauszuholen und womöglich mehrere gleichzeitig zu machen. Konzentriere Dich auf deine Kampfkunst und nur auf diese, damit dein Unterbewußtsein nicht mit dem Bewußtsein in Konflikt gerät. Übe Abstand (Maai) und Atemi, und vor allem das Ausweichen und in Bewegung zu bleiben. Koordinations- und Gleichgewichtstraining ist wichtig. Randori ist wichtig. Der Rest kommt dann von allein.

Nichtsdestotrotz können Blicke über den Tellerrand hinaus nicht schaden. Und alle großen Kampfkünstler haben unterschiedlichste Kampfkünste studiert – um letztendlich eine davon zu perfektionieren.

Bleibt zuletzt nur eine Frage:

Was, wenn der Aikidoka den Abstand nicht einhalten kann, z.B. wenn der Kampf im 2-Personen Aufzug auf tuchfühlung entsteht?

Antwort: Der erfahrene Aikidoka würde rechtzeitig ins Treppenhaus ausweichen.